Kommentar

Mein Lohn muss zum Leben reichen, deiner nicht!

Werner Vontobel © zvg

Werner Vontobel /  Muss der Lohn zum Leben reichen? Klar! Doch dass wir diese Frage überhaupt stellen müssen, zeigt, dass einiges schiefgelaufen ist.

Was ist geschehen? Roland Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands hat laut «Blick» gesagt: «Ein rein existenzsichernder Lohn (gemeint waren rund 23 Franken. Red.)  ist nicht die Aufgabe der Arbeitgeber.» Stattdessen seien der Staat und staatliche Lohnzuschüsse gefordert. Das hat eine heisse Diskussion ausgelöst. Hansueli Schöchli, «Chefökonom» der «NZZ», hat Müller mit folgendem Argument unterstützt: «Aus ökonomischer Sicht müssen Löhne in erster Linie die Wertschöpfung der betroffenen Arbeitnehmer spiegeln.»

Was ist dazu zu sagen? Erstens: Falsche Fragestellung! In einer gut funktionierenden Marktwirtschaft sollte sich das Verursacherprinzip durchsetzen. Letztlich zahlt nicht der Arbeitgeber den Lohn, sondern der Endkonsument, der die entsprechende Leistung in Anspruch nimmt. Zweitens: Falscher Begriff. Die Wertschöpfung kann nicht gemessen werden. Die Ökonomen können nicht ermitteln, wieviel jemand mit seiner Stunde Arbeit zum BIP beigetragen hat. Stattdessen beobachten sie die Wertabschöpfung, also wie viel dieser jemand für seine Arbeit kassiert hat. Schöchlis Forderung, die Löhne müssten der Wertschöpfung entsprechen, ist deshalb ein Zirkelschluss. Was er «Wertschöpfung» nennt, ist per Definition der Lohn. Und umgekehrt. 

Stattdessen sollten wir von den Kosten der Arbeit reden. Das sind letztlich die Lebenshaltungskosten. Damit jemand arbeiten kann, muss er oder sie wohnen, essen, Kinder (die kommenden Arbeitskräfte) grossziehen etc. Sonst müssen Niedriglöhner von der Kaufkraft ihrer Partner, Eltern oder Verwandten leben. In den Wechselfällen des Lebens, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter muss meistens auch der Staat einspringen.

Leben heisst auch sozial mithalten, dabei sein. Deshalb hängen die Ansprüche an die Lebenshaltung auch von der Produktionskraft der Wirtschaft insgesamt ab. Und diese wiederum kann nur ausgeschöpft werden, wenn die Löhne hoch genug sind und sinnvoll verteilt werden. Dafür sorgt – gemäss den Lehrbüchern der Ökonomie – der Markt, das Spiel von Angebot und Nachfrage und der Eigennutz der Wirtschaftsakteure.

So wird niemand zu einem Lohn arbeiten (können), der die Lebenshaltungskosten nicht deckt, die im Verhältnis zur Produktionskraft der Wirtschaft angemessen sind.

Für die Schweiz sieht das aktuell konkret wie folgt aus: Mit rund 8 Milliarden Arbeitsstunden wird eine Lohnsumme von 490 Milliarden erwirtschaftet. Das entspricht einem durchschnittlichen Stundenlohn von rund 61 Franken. Dazu kommen – immer auf die Arbeitsstunde umgerechnet – noch rund 15 Franken Gewinn – nach Abschreibungen wohlverstanden. Im Schnitt stehen dem Schweizer pro Stunde bezahlte Arbeit somit 76 Franken allein für den Konsum zur Verfügung.

76 Franken pro Stunde sind somit das, was bei einer gleichmässigen Beuteverteilung alle erhalten müssten, die sich an der Erarbeitung des BIP beteiligt haben. Nun verlangt niemand eine gleichmässige Verteilung. Aber halbwegs gerecht müsste sie schon sein. Wenn nun eine Person nur 20 Franken pro Stunde verdient, fallen für eine andere – rein rechnerisch – 132 Franken ab (zweimal 76 minus 20). 

Eine solche Einkommensverteilung ist extrem ungerecht und gefährdet den sozialen Frieden. Zudem reichen die 20 Franken auch bei einem Vollpensum von jährlich 2000 Stunden nur für einen Monatslohn von 3333 Franken. Davon kann man nach Miete, Krankenkasse, Zahnarzt und Steuern knapp den Lebensunterhalt einer Person bestreiten, ohne etwas für die alten und kranken Tage auf die hohe Kante legen zu können. 

Leben im Sinne von Familie gründen und sozial und politisch aktiv sein, kann man damit nicht. Annehmlichkeiten wie Ferien, Fitness-Abo, Kinobesuch usw. liegen nicht drin. Doch ohne diese Annehmlichkeiten kann die Wirtschaft ihre Kapazitäten nicht auslasten. 

Armut schadet auch der Wirtschaft

Um in der Schweiz leben und sozial einigermassen mithalten zu können, braucht man wohl mindestens 35 Franken pro Stunde. Für jeden, der so wenig verdient, kassiert rein rechnerisch ein anderer immer noch das Dreifache. Ein Paar mit anderthalb Vollpensen (sprich 2640 Jahresstunden) kommt mit brutto 35 Franken pro Stunde auf monatlich netto 7700 Franken.  

Mit einer tiefen Miete kann man damit zur Not auch ohne staatliche Lohnzuschüsse zwei Kinder grossziehen und damit das Überleben der Schweiz sichern. Ein gut funktionierender Arbeitsmarkt (und ein entsprechendes Bildungssystem) sollte bewirken, dass alle eine Arbeit finden, die ihren Lebensunterhalt deckt.

Nach dem Verursacherprinzip heisst das aber auch, dass der Endkonsument diese 35 Franken bezahlt beziehungsweise dass der Arbeitgeber die entsprechenden Kosten überwälzen und in den Preis seiner Produkte oder Dienstleistungen einrechnen kann. 

Und wenn das nicht möglich ist? 

Der Staat muss die Differenz nicht übernehmen, wie das Arbeitgeberpräsident Müller und Schöchli in der «NZZ» fordern, sondern dann muss man den Markt spielen lassen. Die entsprechende Dienstleistung – die offenbar nicht dringend gebraucht – wird, wird dann einfach nicht erbracht. Punkt. 

Kurierdienste etwa oder Nagelstudios würden weit weniger gefragt, wenn die Konsumenten die vollen Lebenshaltungskosten ihrer Dienstleister bezahlen müssten. 

Allerdings gibt es auch viele Dienstleistungen und Arbeiten, die andere dringend brauchen: Lastwagenchauffeure, Verkäuferinnen, Pflegerinnen, Kita-Betreuerinnen usw. Diese Dienstleistungen würden immer noch unvermindert gefragt, auch wenn sie anständige Löhne erhielten. Staatlich verordnete Mindestlöhne könnten dafür sorgen, dass das Verursacherprinzip gewahrt und die Kosten eines anständigen Lebensunterhalts auf die Endkonsumenten abgewälzt werden. Das wäre volkswirtschaftlich gesehen viel billiger:

Mit Mindestlöhnen braucht es keine staatliche Umverteilungsbürokratie. Zudem können all die Kosten vermieden oder vermindert werden, die mit nicht existenzsichernden Löhnen verbunden sind – Armut, Stress, Unfälle, Krankheit, Arbeitsausfall und höhere Gesundheitskosten. 

Wer tiefe Löhne damit rechtfertigt, dass diese Beschäftigten eine zu tiefe «Produktivität» hätten, sagt seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern nichts anders als: Mein Lohn soll für meinen Lebensunterhalt reichen, deiner nicht.

Kein Problem in den Nachkriegsjahren

In den ersten rund 50 Nachkriegsjahren konnte eine einzige Arbeitskraft eine ganze Familie mit zwei oder oft auch drei Kindern über die Runden bringen. Dank der steigenden Produktivität konnten sich mit der Zeit auch Arbeiterfamilien ein Auto und Ferien am Meer leisten. Auch die einfachen Leute konnten sozial mithalten. Seit den 1960er Jahren hat sich die Produktivität pro Arbeitsstunde mehr als verdoppelt. 

Warum also stellt sich heute überhaupt die Frage, ob der Lohn noch zum Leben reicht, ob man wenigstens mit zwei Einkommen noch eine Familie durchbringen kann? Was ist schiefgelaufen? Was haben wir damals besser gemacht?

Der globale Wettbewerb als Ausrede für niedrige Löhne

Heute fordern die Ökonomen tiefe Löhne, damit wir im globalen Wettbewerb mithalten können. Damals hat man jedoch die Erfahrung gemacht, dass eine Wirtschaft nur dann blühen und die steigende Produktivität in Wohlstand umwandeln kann, wenn die Ansprüche an die Lebenshaltung auf breiter Front hochgehalten werden. Selbst wenn man zu diesem Zweck die Arbeitszeiten kürzen musste. 

In den ersten Nachkriegsjahren waren die Löhne der Saisonniers tief, weil ihre Lebenshaltungskosten tief und ihre Arbeitszeiten lang waren. Sie wohnten in Baracken und ihre Familien lebten im billigen Süditalien oder in Spanien. Und die Frauen wurden nicht deshalb schlecht bezahlt, weil ihre Arbeit wenig produktiv war, sondern weil die Arbeitgeber davon ausgehen konnten, dass ihre Lebenshaltungskosten vom «Ernährerlohn» der Ehemänner bestritten wurden.

Damit aber bestand die Gefahr, dass die gemessene «Produktivität» und damit der Lohn für die Arbeiten sank, für die man Frauen oder Saisonniers einstellen konnte. Es drohte ein ausufernder Niedriglohnsektor und eine entsprechend schwächelnde Wirtschaft. Starke Gewerkschaften, die Frauenrechtsbewegung und der gesunde Menschenverstand einiger Wirtschaftspolitikerinnen und Wirtschaftspolitiker haben diese Entwicklung rechtzeitig gebremst und damit die Grundlage für den Aufschwung in den Nachkriegsjahrzehnten gelegt. 

Heute fehlt diese Einsicht. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

9 Meinungen

  • am 10.06.2025 um 11:12 Uhr
    Permalink

    Ich lese diesen Artikel in China, finde ihn sympatisch, aber auch sehr in einer Insel-Mentalität geschrieben. Wäre die Welt überall so entwickelt wie die Schweiz (Ökonomen sprechen von Kapitalausstattung, inkl. Maschinen pro Arbeiter, aber auch Strassen, Bildung etc.), dann würde ich voll zustimmen. In der Realität ist aber schon die Frage, was Herr Vontobel mit dem Handel macht. Ein Chinese, dem 3400 CHF pro Monat angeboten werden, ohne höhere Bildung, würde ohne zu zögern auf Urlaub verzichten, und 10h am Tag arbeiten. Erst recht ein Inder, oder Bangladeshi, wo die Löhne (aber auch Lebenskosten) noch viel tiefer sind.
    Die Idee, mit den Profiten aus der Automatisierung ein Grundeinkommen zu finanzieren, damit Schweizer von der Technologie profitieren, und zugleich Löhne tiefer sein können, halte ich für spannend und ökonomisch sinnvoll: Denn wenn alles automatisiert produziert wird, braucht es keine Arbeiter mehr. Dennoch sollte die Produktion verteilt werden unter den Menschen.

  • am 10.06.2025 um 11:19 Uhr
    Permalink

    Teil einer Gemeinschaft zu sein, die eine Leistung erbringt und dafür einen Lohn erhält ist mehr als eine finanzielle Sache. Sie ist Voraussetzung für die psychische Gesundheit von vielen Menschen. Geschützte Arbeitsplätze sind da eine kostspielige und oft unbefriedigende Lösung.
    Wieso sollen Arbeitgeber einen Lohn für jemanden bezahlen, der im Extremfall einfach Teil des Teams ist, der aber wenig Produktives zum Ertrag der Firma beiträgt? Unser System führt zu Separation anstatt zur Integration von Menschen mit verminderter Leistungsfähigkeit. Ich könnte mir geradezu das Umgekehrte vorstellen: Eine Firma bekommt eine Betreuungsentschädigung, während die Öffentlichkeit einen anständigen Lohn finanziert.

  • billo
    am 10.06.2025 um 13:17 Uhr
    Permalink

    Wieder einmal auf den Punkt, und das in einer Sprache, die auch ausgebeutete Personen verstehen können — hoffentlich lesen das viele von ihnen und wählen nicht immer die selben Ratenfänger… Danke, Werner Vontobel!

  • am 10.06.2025 um 15:11 Uhr
    Permalink

    Der Lohn ist die Bezahlung einer erbrachten Arbeitsleistung. Die Einnahme- und Ausgabeseite eines Haushaltes sollten mindestens ausgeglichen sein. Ich konnte meinen Unterhalt immer selber finanzieren. Mittlerweile bezahle ich für die Krankenkassenprämie doppelt soviel wie für meine Miete, sowie Steuern ohne Ende; Mehrwertsteuer, Gemeindesteuer, direkte Bundessteuer, Staatssteuer, Alkoholsteuer, Autosteuer, Hundesteuer und so weiter… hinzu kommen Gebühren ohne Ende. Die Einnahmen sind reichlich, die Ausgaben für die Finanzierung frist der Staat weg. Wer wirklich profitiert von den Lohnerhöhungen sind die Staatskassen.

  • am 10.06.2025 um 16:27 Uhr
    Permalink

    Danke. Der Text ist auch für eine nicht ökonomisch ausgebildete Person wie mich gut verständlich und überzeugt mit seiner Argumentation.

  • am 11.06.2025 um 05:30 Uhr
    Permalink

    Ja – sehr guter Artikel und interessante Kommentare.

    Bei letzteren fehlt mir leider der Einbezug der Umwelt- und Sozial-Kosten. Auch diese sollten von den Gewinnen berappt werden.

    Vielleicht können sich die CEOs dann statt einer Superjacht «nur» noch ein Segelboot leisten. Es wäre jedoch wichtig, dass die 6-köpfige Arbeiterfamilie auch mal in die Ferien verreisen könnte und dass sie über die Finanzen für eine gute Ausbildung der Kinder verfügt.

  • am 11.06.2025 um 14:30 Uhr
    Permalink

    Der Staat (Ö) langt eben ordentlich hin. Dazu kommen rasant gestiegene Preise in allen Kategorien; auch hier langt der Staat über USt., MÖSt. und Gebühren wieder zu. Die meisten hochentwickelten Industriestaaten haben Rekordsteuereinnahmen und Rekordbudgets für Sozial- und Krankenkassen. Trotzdem reicht es angeblich hinten und vorne nicht. Über die kalte Progression sind viele Verdiener zu Unrecht in höhere Abgabenklassen aufgerückt während die Höchstbemessungsgrundlagen Höchstverdiener ungeschoren lassen. Mit fairen Löhnen allein ist die Diskussion nicht erledigt. Wenn Abgaben und Preise niedriger wären, käme man auch mit niedrigeren Löhnen zurecht.

  • am 11.06.2025 um 15:10 Uhr
    Permalink

    Das Thema betrifft mich gerade persönlich. Ich habe gekündigt und bin auf der Suche nach einer Stelle als Fachmann Betreuung im Behindertenbereich.
    Als 48 Jähriger mit bald 20 Jahren Erfahrung, wurde mir Fr. 4500.-, bei einem 100% Pensum angeboten. Laut CURAVIVA Schweiz sind zurzeit 5000 Vollstellen unbesetzt (nur FaBe).
    Das wäre weniger Lohn als ich mit 19 als Maurer bekam. Da fragt Man(n) sich schon, ob es der richtige Beruf ist und ich liebe meinen Beruf.
    Die Ökonomen dürfen gerne mal mit mir arbeiten, wenn sie sich so stark für tiefe Löhne machen.

  • Portrait_Peter_Ulrich
    am 12.06.2025 um 23:04 Uhr
    Permalink

    Die Argumentation von Werner Vontobel ist von A bis Z überzeugend!
    Möge sie bei den Adressaten Gehör finden.

    Vielleicht noch ein Hinweis zur impliziten „Ethik“ der vom Arbeitgeberverband vertretenen Haltung. Sie wurzelt in einem monistischen Verständnis des Unternehmens als Kapitalverwertungsinstrument allein im Dienst der Eigentümer (Stockholder). Alle anderen involvierten Stakeholder — Arbeitnehmer, Kunden, Lieferanten, Allgemeinheit — werden dann nur als eigenwertlose Mittel zum Zweck betrachtet. Dieses monistische Unternehmensverständnis ist längst veraltet, realitätsfern und letztlich zynisch. Unternehmen sind aus zeitgemässer Sicht pluralistische Wertschöpfungsveranstaltungen, deren Wertschöpfung allen Beitragenden, also allen Stakeholdern, in fairer Ausgewogenheit zugut kommen soll. Alles andere ist nicht legitim und auch nicht nachhaltig.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...